Fünfzig Bilder Peter Baers von 1988-1989

Wenn einer - besonders als Künstler - so aufs Ganze geht, radikal, immer erneut und weiter vorstossend in die selbe (?) Richtung, lässt das schon deshalb aufmerken, weil man, Bild um Bild des Ringens und Rennens betrachtend, grundsätzlich sich fragt: aus welchen Antrieben ist das möglich, welche unerschöpflichen Impulse, welche immer weiter vorgeschobenen Ziele wirken in diesen malerischen Attacken, in dieser Sucht nach künstlerischer Verdichtung im einzelnen Bild und jeweils sofort darüber hinaus? Das Resultat könnte schliesslich Verengung, ein Totlaufen sein; wie weit es jedoch Ausweitung, Substanz Bereicherung tatsächlich bleibt: das muss offenbar von Peter Baer unablässig auf die Spitze getrieben werden, mit allen Risiken des «zu weit hinausgefahren» - mit dem von Baer geliebten Hemingway, «Der alte Mann und das Meer», gesagt (siehe Georg Germann im Katalog Peter Baer, Galerie «zem Specht» und Kunsthalle Basel 1983/84, S.9).

Diese Werke, die Peter Baer seit Juni 1988 gemalt hat (hauptsächlich im Format 130 x 150 cm oder 120 x 110 cm), bilden in besonderer Strenge eine Folge - wegen ihrer Offenheit brauche ich nicht den Begriff «Zyklus»; genauer: sie bilden mindestens zwei miteinander verbundene, zusammenwirkende Folgen. Baer unterscheidet die «Trägerköpfe» (Abb. 20ff.) von einer ersten Folge. Diese erste Folge - «Bühnen» - ging von dem Bild «Der Täuscher» (Abb. 1) aus. Es wurde im Juni 1988 gemalt und später leicht verändert. Es unterscheidet sich von allen anderen, plastischeren Bildern durch seinen schattenhaft-dynamischen Charakter und, obwohl sich die Grundmotive der kommenden Bilder ankündigen, gegenständlich durch eine Gemischtheit, die bewirkt, dass alles Einzelne, Körperhafte sich kaum fassen lässt, weggleitet. Die dominante Diagonale legt sich nicht bloss quer, vielmehr bringt sie eine Drehung in das Bild und seine «Dinge», als ob sich trotz des stürmischen Entgegentretens alles wieder entwinden wollte.

Gerade im Bezug auf dieses erste Bild, das ja nicht von ungefähr « Der Täuscher» betitelt wurde (ein herausfordernder Vorgang: was hat das Täuscher-Bild noch im Sinn ?), sieht man: die folgenden 49 Bilder schliessen sich durch ihre energisch festhaltende Art und jeweils durch die Aufrichtung eines gesteigert konkreten Gegenüber zusammen - darin gehen sie im Baer'schen Oeuvre entschieden weiter als alles Bisherige. Die Pinselstriche werden, auch bei grosser Farbenbrillanz, mehr und mehr plastisch zupackend. Ihren «zeichnerischen» Duktus kann man in jedem Strich verfolgen; keine «Täuschungen», die illusionistischen Effekte treten zurück. Das gilt in besonderem Mass für jene Bilder, deren Gegenständlichkeit bis nahe an die Verwilderung getrieben ist, ohne dass das (Kopf-)Zentrum verloren ginge; extreme Beispiele dafür sind der «Philosoph», der «Fürst» und der «Jude» (Abb. 28, 30, 31), in verwegenerer Form der «Admiral» oder der «Afrikaner» (Abb. 44 und 46).

Die Nummer 1 der ersten Serie, die den Titel «Bühnen» bekam (Bühnen ebenso des Ego wie der «Welt», gleichermassen Innenräume wie extrem gespannte Aussenräume, das wird unterscheidbar), ist seinem Grundmotiv nach eines jener - äusserlich gesagt - Torero-Bilder, deren Kern schon genauer bezeichnet wird mit der von Baer verwendeten Umschreibung «Mass nehmen», «Er nimmt Mass». Dieses Baersche Leitmotiv (siehe auch den Umschlag) verliert sich auch nicht in der zweiten Folge, den «Trägerköpfen» («Stierkämpfer», Abb.41, Begleitfigur des « Knechts», Abb. 22, und des « Rebells», Abb. 26). Die «Trägerköpfe» haben selbstverständlich irgendwie selbstbildnerische Züge - bis zum «Priester» (Abb. 21) und schliesslich zum «Weltreiniger» (Abb. 50), dessen angespanntes, zuckendes Gesicht dorthin sich zusammenzuziehen scheint, wo erst die entscheidende Öffnung und weiträumige Bewegung befreiend erfahren werden kann. Der Titel, «Weltreiniger», natürlich auch diese mehrdeutige Klosettform des Schädels, lässt an den Bericht von Aurel Schmidt über Peter Baer denken (im erwähnten Ausstellungskatalog von 1983/84, S. 13): «Am Ausgangspunkt liegen bei ihm Reinigungszwänge und Erlösungsvorstellungen. Gefährlich wurde die Lage für ihn einmal, als er lange Zeit die Wasserspülung des Klosetts laufen liess. <Ich betrachtete damals die Welt als Scheisse und musste mich reinigen>.»

Das Schluss-Bild der zweiten Bilderfolge, der «Trägerköpfe»-Bilder, hat einen merkwürdigen Vorläufer in der ersten Folge: das Bild «Sieben + eins» (Abb. 17). Sein apokalyptischer Charakter - apokalyptisch etwa in dem Sinne, dass da wunderliche, vielleicht letzte Dinge geschehen, die sich visionär ankündigen - tritt auch in den Bildern «Der Mann über dem Netz» (Abb.4) und «Jericho» (Abb. 5) hervor, in verwandter Gestalt: ein nach vorn sich beugender Kopf schaut in sich, er wird zum «Träger» eines ganzheitlichen Geschehens, und es öffnen sich Dimensionen, es braust, es geschehen Eingriffe. Die alttestamentlichen Posaunen von Jericho brachten Stadtmauern zum Einsturz - in dem Werk mit dem Titel «Jericho» (Abb. 5) soll man gewiss nicht nach der Abbildung solcher Posaunen suchen (schon gar nicht in der Siebenzahl, die Peter Baer immerhin mehr als einmal erscheinen liess, so auf dem Bild Abb. 17, auch schon früher). Dennoch wird in diesem Über-ihn-kommen, in dem Massnehmen und Ins-Mass-genommen-werden, in dem Wachsen und in der Entladung etwas zum Ausdruck gebracht, das biblischen Sprachbildern nicht fernsteht. «Ich halte die Schrift für wichtig, das Wort, von dem geschrieben steht, dass es Fleisch wird», antwortet Peter Baer ohne Zögern, wenn man ihn danach fragt.

Mehrfach lastet die Schriftrolle, die Thora, auf dem Kopf (Abb. 14, 29, 34, 36, 38, 40, 41, 43); sie umschliesst ihn und lässt ihn in ein «jenseitiges» Rot eingehen, das Kopf und Schriftrolle zur Verschmelzung bringt (Abb. 29); oder es muss die Thora - sie erscheint in früheren Werken Baers, so auf manchen Blättern der Zeichnungsserie «Ferienrapport» (Basel, Birkhäuser Verlag, 1987, Abb. 37ff., 50 ff., 80 ff.), wie eine dynamisierte Gestalt der Stierkämpfer-Capa oder des Balancierstabes - über den Kopf, ja noch über einen vom Kopf getragenen «Weltbühnentisch» gehoben werden (Abb. 7); und schliesslich gab Baer einem der «Trägerköpfe» , der von einem blossen Tisch bedeckt ist (zwanghaft dunkel und öffnend zugleich), den Bildtitel «Gesetzesträger» (Abb.33). Tisch (-Bühne), Stuhl, Bett, Pferch (Abb. 15-16), obelisk- oder sargförmiger «Berg» in kristalliner, bekrönender Gestalt (Abb. 20 ff.; vgl. «Ferienrapport» Abb. 30 ff., bei Zeichnung Abb. 50 einem Sarg angenähert), Buch, Thora: all dies verkettet sich zu einer zusammenhängenden Reihe von prozesshaft sich konkretisierenden Gebilden der Belastung und Bekrönung dieser Köpfe. Sie werden bedrückt und erniedrigt, aber zugleich erhöht, und dies nicht ohne Anspielung an die Propheten und Dulder der «Schrift». «Man muss in biblische Figuren einsteigen», meint Baer.

Die Malerei als medialer Realisierungsvorgang kann verstanden werden als ein Modell für die Nicht-Existenz von Zufällen, als Modell für notwendige Verwirklichung aus einer bestimmten Haltung und Sicht, die sich, im Prinzip, als Version der alten Prophetie annähern kann. Dann wird das Ich zum Instrument - die uralte Sehnsucht und «Aufgabe» der Künstler und ihrer weltgeschichtlichen Verwandten (ich halte dies nüchtern fest, ohne den mir so wesentlichen Künstlerstand zu heroisieren). Im Malen geht es um ein Vorausahnen und Sich-leiten-lassen durch das Nicht-Zufällige; nicht geht es um banales zeigen eines behaupteten «Besitzes der Wahrheit» (der, so Lessing, nur «ruhig, träge, stolz» mache). Wenn Peter Baer bemerkt: «Es kommt wie es muss, nicht wie es will», so kann man dies einfach auf das Ankommen des Farbauftrages auf der Leinwand beziehen, aber natürlich zugleich auf weitergehende Vorgänge, die damit in Beziehung stehen. Die Motivation zum Malen liegt für Baer offenbar an dieser Stelle. Von daher beurteilt sich letztlich die Qualität dieser Bilder.

 

In: Ausstellung Peter Baer

 

Galerie Specht, Carzaniga + Ueker Basel, Basel, 25. Mai bis 24. Juni 1989