Über wen? Über Peter Baer

Es kommt immer wieder vor, dass sich Dinge ereignen, die wie Zufall aussehen und doch alles
andere als das sind. Die sich in bestimmten, bedeutungsvollen Augenblicken ereignen, als würden sie einer geheimen Gesetzmässigkeit von Anziehung und Abstossung gehorchen. Die mit anderen Ereignissen zusammenfallen - und erst lange hinterher ist man, durch neue Erfahrungen sensibler geworden, in der Lage zu begreifen, dass aus diesem Zusammentreffen, dieser Konstellation ein neuer Sinn hervorgegangen ist, an den man vorher gar nicht gedacht hat, gar nicht denken konnte. Es musste einfach so kommen, weil es gar nicht anders kommen konnte. Der Lauf der Dinge war längst vorgezeichnet.

Als Peter Baer ein Kind war, hatte er einmal einen Traum. «Wir werden bombardiert werden», verkündete er seinen erstaunten Eltern, aber die beruhigten ihn. Er solle nur nicht den Teufel an die Wand malen, meinte sein Vater. Kurze Zeit danach wurde der Zug, mit dem der junge Peter Baer und seine Familie in die Umgebung von Basel fahren wollten, ausserhalb des Centralbahnhofs tatsächlich bombardiert. Das geschah zu jener Zeit, als die Alliierten Basel irrtümlich angriffen und Bomben auf das Gundeldingerquartier fielen. Man müsste sehr naiv sein, wollte man in diesem Traum und dem, was sich von ihm erfüllt hat, ein zufälliges Zusammentreffen sehen.

Konstellationen dieser Art sind bei Peter Baer wiederholt vorgekommen. Einmal malte er spät nachts in seinem Atelier an einem Bild. Er versank in Nachdenken und stellte sich, so erzählt er heute, laut die Frage: «Ist es China ?» Am frühen Morgen des darauf folgenden Tages, nachdem er die ganze Nacht an dem Bild gearbeitet hatte, vernahm er, dass in derselben Nacht Mao Tse-tung gestorben war. Dem Bild gab er daraufhin den Titel «Wenn Mao sterben will, muss man arbeiten». Noch ein Zufall?

Peter Baer ist ein monologisierender Erzähler. Es erzählt, wenn er erzählt, genauso wie es maIt, wenn er malt, das heisst, wenn er in seinem Körper Bewegungen wie in einem Computer programmiert und speichert und diese Bewegungen dann abruft, sie in der Computersprache «ausdruckt» und, in Farbe umgesetzt, auf die Leinwand überträgt - so malt Peter Baer: In einem Stadium höchster physischer und natürlich psychischer Intensität, bis die geballte Kraft explodiert und sich wie selbständig ihren Weg bahnt.

Wenn er erzählt, kann Peter Baer einen dabei anschauen, als hätte er vier Augen, und wenn er lacht, dann lacht es. Aber ist er es wirklich, der spricht, der lacht, oder spricht und lacht ein anderer durch ihn hindurch und er ist selber der andere, während Peter Baer, der eben noch da sass, plötzlich verschwunden ist, weggegangen, wer weiss wohin? Auf jeden Fall weggegangen, wohin ihm niemand folgt.

Das gleiche, wenn er einen anschaut, als wollte er bei seinem Zuhörer herausfinden, wie er die Nachricht, die er ihm übermittelt hat, erhalten und aufgenommen hat. Wer schaut einen dann an, mit listigen, aber auch bohrenden Augen, die manchmal auch zuklappen können wie ein Schalter? Welche molekularen Verschiebungen ereignen sich in solchen Augenblicken? Was ist Wirklichkeit, was Vorstellung, sofern die Vorstellung nicht selbst eine Wirklichkeit ist (was sie natürlich ist)?

Ich erinnere mich lebhaft an einen Abend, den ich vor einiger Zeit mit Peter Baer verbrachte. Aus dem Abend wurde eine lange, mitunter gespenstische Nacht. Als er von seinen Reisen durch weit entfernte Erfahrungsräume erzählte, blitzte es draussen und krachten die Donner, es hagelte, ein Föhnsturm. War das noch ein Zufall? Die Elemente der Natur schienen an diesem Abend beauftragt, sich bemerkbar zu machen, um auf diese Weise seinen Aussagen Nachdruck zu verleihen.

Man versteht Peter Baer und seine Malerei nicht, wenn man nicht in Betracht zieht, dass er sich zurückziehen und manchmal an einem ganz anderen Ort aufhalten kann, der für uns unerreichbar ist.

Er ist draussen, wir sind drinnen. Er ist frei, wir sind gebunden, gefangen. Eingesperrt in die Falle von Normalität, Anpassung, Routine, Alltag. Er ist offen, wir sind verschlossen, das heisst reduziert, verkümmert.

Seine Malerei bezieht aus diesen Erfahrungen diesseits und jenseits der Schwelle ihre Substanz, Aussage, Heftigkeit, Bedeutung.

Es passt in diesem Zusammenhang auch, dass Peter Baer teilzeitlich bei der Post arbeitet, als Nachtaushelfer, um sich auf diese Weise seine private Unabhängigkeit zu bewahren und ausserdem den Freiraum zu erwerben, den er benötigt, um durch verschiedene existentielle Zustände hindurchzugehen und zwischen den WeIten hin und her zu pendeln. Denn er weiss sehr genau, dass man verschiedene Rollen spielen muss, um jede einzelne zu beherrschen. Der kreative Akt ist zuallererst eine Erfahrung, die man über sich selbst macht.

Es war zwei Uhr morgens, als wir uns im Atelier seine neuesten Bilder anschauten. Auf dem Grammophon lief Mozarts c-moll-Messe, mit ihren Abgründen, nächtlichen Visionen und hellen Stimmen der Verführung eine erschaudernde Walpurgisnachtmusik, und während Augenblicken wusste ich nicht mehr recht, ob ich mich in der Welt der Bilder aufhielt und Mozarts Musik hörte, wie sie von draussen erklang, oder ob die Musik drinnen ertönte und ich hinausschaute und draussen, wie durch ein Fenster, Peter Baers Bilder in einer wunderbaren Reinheit sah.

Seine Bilder. Sie geben alle Erfahrungen wieder, die draussen gemacht worden sind, ausserhalb der Bedingungen und Voraussetzungen, durch die wir die Realität als Konsens konstituieren.

Auf einem der Bilder sitzt eine Gestalt auf einem Stuhl («Von Babel geprägt»). aber sie wird
nicht als Aussenansicht gezeigt sondern aus dem Inneren der Erfahrung heraus. Es ist die
Erfahrung des Drinnen, des Erfahrungsinnenraums, die einer gemacht hat der draussen war und der, weil er draussen gewesen ist weiss, was Drinnen bedeutet.

Peter Baers Werk beschränkt sich auf eine kleine Anzahl von Themen: Stuhl, vielleicht ein Weltsymbol; Tisch; Stier, der die reaktive, archaische Kraft verkörpert und Stierkämpfer, der oft wie eine gespannte Armbrust erscheint («man muss schiessen, bis es trifft», sagt Peter Baer); Pferd; leerer Raum als Ausdruck für Angst Bedrohung, Verlorensein, für den Schatten der Ereignisse, für das Vorläufige, für eine bestimmte Lebensbefindlichkeit also.

Auf einem anderen Bild ereignet sich etwas Ungewöhnliches: Ein Stier wirft einen Schatten, der die Umrisse eines Menschen angenommen hat. Peter Baer hat dazu folgende Erklärung abgegeben: «Es geht wie am Dritten Weltkrieg vorbei und ist von einer ungeheuren Toleranz.» Zu verstehen ist auch dieses Bild nur, wenn man es als Erfahrung des Drinnen (wenn man selber draussen ist) oder des Draussen (wenn man selber drinnen ist) versteht. Peter Baer hat ihm den Titel «Die ungeheure Toleranz» gegeben.

Eines seiner jüngsten Bilder, in Schwarz, fast ohne Farbe, nur etwas Blau, trägt den Titel «Der Tisch» und gibt eine Abendmahlsszene wieder. Oder ist es eine Begegnung vor dem Richter? Es bleibt unklar, ob Christus oben und Judas Ischariot unten sitzt oder umgekehrt, und ob es also Christus ist der gerichtet wird, oder Judas. Richtig ist es wohl, wenn man davon ausgeht dass beide Gestalten zueinander gehören, sich bedingen und in einem Komplementärverhältnis zueinander stehen. Jeder ist ein Teil des anderen und von allen.

Die Perspektive kehrt sich, wenn man sich einmal auf Peter Baers Bilder eingelassen hat, immer wieder um und gewinnt dadurch eine schwer erklärbare Provokation. Eine Unruhe geht von ihnen aus. Wer ist drinnen und wer ist draussen, oben und unten, Richter und Gerichteter? Alle sind einmal das eine und dann wieder das andere.

Und wer ist drinnen, wenn alle draussen sind, und draussen, wenn alle drinnen sind?

Am Ende wird das Draussen zum Drinnen einer neuen Erfahrungsdimension.

Man muss sich um jeden Preis von der Normalität befreien, um sich selber zu werden, um zu seiner Eigentlichkeit zu kommen.

Peter Baers Malerei ist eine entkonditionierte Malerei. In ihr sind die Mechanismen der Gewohnheit und Anpassung überwunden. Sie geht aus einem Zustand existentieller Erfahrung hervor, in dem sich der Geist frei und ungebunden bewegen kann.

Wenn ich das schreibe, halte ich mit einem Mal inne. Stimmt das alles auch? Beim Erinnern an den mit Peter Baer verbrachten Abend kommen mir starke Zweifel. Wohl hat alles seine zutreffende Entsprechung, aber wenn man glaubt, dass es zutrifft, dann trifft es schon nicht mehr zu. Wenn man glaubt, etwas von ihm verstanden zu haben, dann sorgt er dafür, dass dieser Eindruck im nächsten Augenblick zerstört wird.

Habe ich mit Peter Baer gesprochen? Gewiss, aber hat er auch mit mir gesprochen, als wir jene lange Nacht in seinem Atelier verbrachten? Vielleicht hat er sein zweites Ich einfach sitzen- und weiterreden lassen und ist mit seinem ersten Ich weggegangen, als ich im Glauben war, mit ihm zu reden.

Das ist möglich. Aber wer von ihm ist nur er und wer der andere? Die Frage lässt mir keine Ruhe.

«Es gibt Dinge, die mit dem Verstand nicht zu fassen sind», sagt Peter Baer, «das ist es genau, was mit meiner Malerei zu tun hat.» Sie ist, heisst das, eine Beeinflussung, eine Umwandlung, ein Austausch von geistigen Substanzen, Energien, Strömen, von Reaktionen, Verbindungen, Zusammensetzungen und neuen Zusammensetzungen, eine «Biochemie», wie Peter Baer selber sagt. Zu diesem Austausch gehört auch der physische Aspekt der Ausführung. Man muss manchmal malen, bis man kurz vor dem Umfallen ist. Bis Malen sich in einen körperlich gelebten Prozess, in einen existentiellen Akt umgewandelt hat. Und bis im gleichen Zug das Bild so dicht und hermetisch geworden ist, «dass kein Floh mehr hindurchrennen kann». Erst dann hat es sich erwiesen, «was man auf einer Fläche investiert hat». «Künstler haben», sagt Peter Baer, «ein Radar für Vorgänge im Kosmos.» Das allein aber wäre noch keine singuläre Entdeckung. Warum malen? « Ich male», antwortet Peter Baer, «weil die Welt am Verrecken ist.» Aber auch bei dieser Aussage muss man noch ein Stück weiter hinabsteigen in die Tiefenschichten von Peter Baers Bewusstsein. Am Ausgangspunkt liegen bei ihm Reinigungszwänge und Erlösungsvorstellungen. Gefährlich wurde die Lage für ihn einmal, als er lange Zeit die Wasserspülung des Klosetts laufen liess. «Ich betrachtete damals die Welt als Scheisse und musste mich reinigen.» Ein anderes Mal wollte er fasten, «um die Welt zu retten». Macht bekommt ein Mensch, so meint er, dadurch, dass die anderen sich an ihm «verschuldigen». In einem langen dialektischen Prozess führt diese Auffassung zu dem Punkt, wo aus dem Geopferten der Opfernde wird, derjenige, der durch das Opfer zum Erlöser wird, was nicht aus-, sondern im Gegenteil einschliesst, dass dieses Opfer immer und ausschliesslich im Opfernden selbst besteht. Eine Verschiebung, eine Umwandlung, eine Umsetzung, was genau mit dem Malen identisch ist: «Der Künstler nimmt Umstrukturierungen im Raum vor.» Was mehr bedeutet als malen. Es heisst: Durch die Malerei die Gewichte, die Zustände und Kräfteverhältnisse ändern. Aus diesem Grund war zum Beispiel für Peter Baer «der Kubismus eine Intuition der Kernspaltung und Picasso so wichtig wie Einstein». Aber man mache sich keine falschen, idyllischen Vorstellungen: Ohne enorme Anstrengung ist die Befolgung dieser Erkenntnis nicht zu leisten. Peter Baer ist ein Schwerarbeiter, auch wenn unter Umständen ein Bild malen für ihn bedeutet, «einmal kurz in die Luft zu greife». Aber in die Luft greifen kann nur, wer zuvor schon die ganze Vorarbeit geleistet hat. Unter Umständen kann diese Vorarbeit das eigene Leben sein, was einer daraus gemacht hat, wie weit er gegangen ist. Die Entkonditionierung des eigenen Lebens, die Art, wie man sich öffnet. «Wer keine Wand draussen hat, der sieht auch nicht hinaus», sagt Peter Baer. Ein Satz, sehr bedeutungsvoll und anspielungsreich. Er besagt: Einen Teil der individuellen und gesellschaftlichen Normalität muss man und muss zuallererst der Künstler aufgeben, um erkennen zu können, was diese Normalität aus einem gemacht, wie sie einen verkrüppelt hat; doch wie zieht man sich an den eigenen Haaren in die Höhe? Das ist nur möglich durch die Bereitschaft zum existentiellen Wagnis und zur Verwandlung. Andere richten Schutzwände um sich herum auf und merken nicht, wie sie dabei ihr eigenes Gefängnis errichten, in dem sie sich einschliessen; Peter Baer dagegen hat diese Schutzwände niedergerissen, er lebt ungeschützt, draussen, am einzigen Ort, wo es möglich ist, Erfahrungen zu machen, oft schwere, aber auch schöne, wo also das Leben ist. «Ich lebe immer auf Probe», sagt er. Er hätte genauso gut sagen können: Ich kann nicht aufhören. Ich muss immer weitergehen. Und er hat nicht aufgehört, er hat, das ist eine Tatsache, den äussersten Schritt gewagt, er ist weitergegangen als irgendeiner, über die Schwelle hinaus, bis zur Selbstaufgabe und -auflösung, die aber die Voraussetzung ist für ein neues Sichselbstwerden. Der kreative Akt ist ein Wahnsinn, der Wahnsinn ist ein kreativer Akt. Es wäre jedoch sinnlos, sich dabei umbringen zu lassen, deshalb Peter Baers zahlreiche Anläufe, Ausbrüche, Fluchten. «Ich habe mein Auschwitz hinter mir», sagt er, «aber es ist nicht gelungen, mich kaputt zu machen. Was ich erlebt habe, hat mir Kraft gegeben, um weiterzugehen. Ich bin durch den Schlauch hindurch, draussen, im Universum.» Gerettet? Auf jeden Fall mit der Fähigkeit, die Welt heute mit mehr Milde und Gelassenheit zu betrachten. «Ich habe festgestellt, dass eine Idee, die nicht rational fassbar ist, Form annehmen kann. Das ist der Bereich des Mannes», sagt Peter Baer auch, es ist aber noch viel eigentlicher der Bereich des Künstlers. Der Welt der Männer ist die Welt der Frauen entgegengesetzt. Die Frau steht. Sie ist schon dort. Der Mann muss gehen. Er muss handeln, sich erfinden. Die Frau weiss es schon, sie kann das Gegebene annehmen, deshalb liegen ihr Umstrukturierungen nicht. Männer vertragen das Diesseitige, das Gegebene nie, darum müssen sie die Welt unablässig verändern, was mit «umstrukturieren» gemeint ist. Der Künstler ist der beispielhafte Umstrukturierer, aber das heisst auch, dass er ein Zerstörer ist, weil er das Bisherige beseitigen und durch etwas Neues ersetzen muss. Überall Kampf, das ist die Welt der Männer. Aber in der Vorstellung von Peter Baer hat sich im Lauf der Zeit etwas geändert: Dieser Kampf wird heute nicht mehr so heftig ausgetragen wie früher, und Umstrukturierung meint nicht länger nur etwas Zerstörerisches, sondern bekommt die Bedeutung von etwas Konstruktivem. Die Apokalypse ist immer noch aktuell, aber es ist jetzt auch Toleranz möglich.


In: Peter Baer. Werke 1980/83.
Galerie „zem Specht“, 13.10. bis 5.11.1983
Kunsthalle Basel, 22.1. bis 26.2.1984